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„Die Ermöglicher“

Essay von Wolf Lotter, Wirtschaftsjournalist und Buchautor

Für die Veränderung braucht man Menschen, die anderen den Wandel ermöglichen. Über eine ganz neue Form der Entwicklungshilfe.




Märchen für Kinder fangen mit der Einleitung „Es war einmal“ an, solche für Erwachsene mit „Es war einmal alles besser.“ Oder „einfacher“. Oder „klarer.“ Und heute? Weiß man nicht mehr, wo einem der Kopf steht vor lauter Komplexität, Vernetztheit und Digitalem. Die Transformation verändert unser Leben in allen Bereichen. Wer blickt da noch durch? Lasst uns lieber Märchen erzählen.


Nun: Märchen sind Märchen, weil sie sich bekanntlich die Wirklichkeit zurechtbiegen. Was nicht passt, wird passend gemacht. Märchen braucht man, um sich vorzumachen, dass auf dieser Welt alles gutgeht, ob man dafür etwas tut oder nicht. Gestalten? Machen? Handeln? Solche Sachen machen nur das schöne Märchen kaputt. Wer die Idylle stört, kriegt Ärger.


Nun gab es zu allen Zeiten reichlich Märchenerzähler und solche, die sich Märchen erzählen ließen. Das ist auch so in einer Welt, in der seit vielen Jahrzehnten Wohlstand und Wachstum als selbstverständlich angesehen werden, in denen sich nicht alle fragen, woher denn kommt, was man hat. Aber es gibt keinen geheimen Automatismus, der eine gute Zukunft garantiert, eine bessere Welt für uns und unsere Kinder und Enkel, menschengerechtere Lösungen als die, die wir heute kennen. Nichts verändert sich von selbst.


Wohlstand ist immer das Ergebnis von Tätigkeit, von der Fähigkeit zu entscheiden, zu handeln und damit die Gegenwart und Zukunft zu gestalten. Wohlstand ist kein Märchen, Wohlstand ist kein Schicksal, sondern setzt harte, pragmatische Arbeit voraus. Das ist die Realität.


Das sollte man in Europa wissen, wenigstens. Vor mehr als 2.000 Jahren formulierte der Philosoph Aristoteles sein Konzept von der Vita Contemplativa, dem betrachtenden, zurückgezogenen, nachdenklichen Leben. Man schaut auf die Wirklichkeit der Welt und versucht sie zu verstehen. Aristoteles verstand das noch als Widerspruch zu einem aktiven Leben, der „Vita Activa“, in der wir gestalten und verändern, weil wir dazu in der Lage sind.


Jahrhundertelang war das ein Widerspruch, aber das kann nicht mehr so bleiben. Wer die Welt gestalten, ihre Konnektivität und rasche Veränderlichkeit nicht bloß bewältigen, sondern nutzen will, muss beides tun: gründlich denken, also nicht an Märchen glauben, sondern die Realität verstehen wollen, und machen, handeln, entscheiden. Sowohl als auch. Gestaltung braucht Gestalter.


Routinearbeit wird immer mehr von Robotern und Algorithmen erledigt, und das wird das Spezialistentum in allen Bereichen noch weiter antreiben. Dabei geht es darum, Talente optimal zu entfalten. Dann tun sie nämlich das, was sie können, am besten. Dafür muss man einen geeigneten Rahmen schaffen, mit viel Freiraum, viel Entwicklungsmöglichkeit – dann wird das auch optimale Ergebnisse für alle bringen. Damit das in den Unternehmen und in der ganzen Gesellschaft klappt, braucht man Leadership. Leadership ist viel mehr als Management. Das ist mehr als die Fähigkeit, „die Dinge richtig zu tun“, wie Peter Drucker, der Vordenker der Wissensgesellschaft, es sagte. Das ist mehr als „den Laden am Laufen zu halten“. Hier sind die gefragt, die Zukunft ermöglichen.


Ermöglicher sind die wahren Innovatoren unserer Zeit. Sie lassen anderen gerne den Vortritt, Talente fördern sie nach Kräften und machen ihnen den Weg frei. Ihre Arbeit besteht darin, andere weiterzubringen, Kunden und Mitarbeiter, weil sie wissen, dass das alle am weitesten bringt. Sie tun ihr Bestes und ermöglichen das allen anderen. Für diese Arbeit braucht man Neugier, Zuversicht, Mut und Realitätssinn. Ermöglicher lieben den Versuch, der klug macht – das Experiment, das in der Erfolgsgeschichte der Moderne eine so große Rolle spielt beim Erkennen einer besseren Alternative zu dem, was ist. Für Leute, die Märchen mögen, hat das Wort Experiment einen schalen Beigeschmack – man wähnt sich schnell als Versuchskaninchen. Doch das beweist nur, wie wichtig die Arbeit der Ermöglicher ist, die eine Kultur des Selbstbewussten und Selbstständigen in die Welt tragen müssen. Wer anderen dabei hilft, seine Möglichkeiten zu erkennen und wahrzunehmen, stärkt auch das Selbstbewusstsein, das die Menschen heute so dringend brauchen. Was dabei rauskommt: viele unternehmerische, selbstbestimmte Menschen mit mehr Chancen. Und weniger Märchen.


Die Transformation braucht Realisten, Gestalter und Selberdenker. Sie sind die Entwicklungshelfer für eine bessere Welt.

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